Biographie
Mit Wiborada besitzt St.Gallen eine bedeutende und eindrückliche, historisch recht genau fassbare Frauengestalt.
Kindheit
Wiborada stammte aus einer vornehmen Thurgauer Familie. Schon früh entsagte sie weltlichem Glanz, lebte asketisch und wohltätig. Einen grossen Eindruck auf sie machte der frühe Tod ihrer Schwester, die bereits als Kind heiligmässig lebte. Nach dem Tod ihres Vaters pflegte sie ihre alte und kranke Mutter. Auf einer Wallfahrt nach Rom zusammen mit ihrem Bruder, dem Priester Hitto, lernte sie die grosse Welt kennen. Durch ihren Bruder eignete sie sich geistliche Bildung an und erlernte die 150 lateinischen Psalmen.
Leben als Einsiedlerin
In Begleitung Abtbischof Salomons III. (890–920) kam sie im Jahr 912 von Konstanz über den See nach St.Gallen und lebte in einer Zelle an der Kirche St. Georgen auf den südlichen Höhen oberhalb des Klosters. Andere Frauen folgten ihrem Beispiel, unter ihrer Leitung bildete sich im Schatten des Gallusklosters eine Gemeinschaft von Inklusinnen, d.h. in Zellen eingeschlossen lebenden Einsiedlerinnen. Damit wurde Wiborada die Begründerin des Inklusentums, das hier bis zur Reformation weiterlebte. Nach vierjähriger Probezeit liess sie sich vom Bischof im Jahr 916 in eine Zelle an der Kirche St. Mangen auf Lebenszeit einschliessen. Hier wurde sie als «Wiber-Rat» zur «weiblichen Ratgeberin für Klerus, Adel und Volk St.Gallens und Alemanniens» (Johannes Duft).
Vision
Ihr wichtigster Rat ging an Abt Engilbert (925–933). Wiborada kündigte ihm aufgrund einer Vision den Ungarneinfall für das folgende Frühjahr an und veranlasste ihn, Bibliothek und Kirchenschatz rechtzeitig in Sicherheit zu bringen und für die Mönche eine Fluchtburg zu errichten. Als dann die Ungarn am 1. Mai 926 ins Land fielen, weigerte sich die Inklusin, ihr Gelübde zu brechen und mit den anderen zu fliehen, und wurde von den beutegierigen Barbaren erschlagen.
Heiligsprechung
Sogleich setzte die Verehrung dieser ungewöhnlichen Frau ein. Ergriffen von ihrer Gelübdetreue, schrieben die Mönche einen Eintrag in ihr eigenes Professbuch und in ihr täglich gebrauchtes Kapiteloffiziumsbuch. Es folgten Einträge in die Klosterannalen. Um 960/70 verfasste auf Bitten Bischof Ulrichs von Augsburg der Klosterdekan Ekkehart I. († 973) die erste «Vita sanctae Wiboradae». Er konnte sich dabei auf das Zeugnis von Ulrich und von Wiboradas Bruder Hitto berufen. Im Januar 1047 erfuhr Wiborada als erste Frau eine päpstliche Heiligsprechung. Seit dieser Kanonisation durch Papst Clemens II. zählt sie unter dem zweifachen Ehrentitel der Jungfrau und Märtyrin zu den Schutzheiligen St.Gallens. Ekkehart IV. berichtet über sie in der farbigen Schilderung des Ungarneinfalls und in weiteren Episoden seiner St.Galler Klostergeschichten («Casus sancti Galli»). Hundert Jahre nach der ersten Vita, um 1075, schrieb der Mönch Herimannus, einer der letzten namentlich bekannten lateinischen Schriftsteller St.Gallens im Mittelalter, im Stil der neuen Zeit legendär-rhetorisch erweitert die zweite Vita.