Selbstver­wirklichung

Wiborada lebte ein äusserst eigenständiges Leben. Sie fand die tiefste Form von Freiheit paradoxerweise darin, sich einmauern zu lassen. Damit machte sie sich total abhängig von ihren Dienerinnen. Damit wurde sie frei für ihre tiefe Liebe zu Gott.

Selbstver­wirklichung und Spiritualität heute

Wie lassen sich Spiritualität und Selbstverwirklichung verbinden?

Selbstverwirklichung meint: werden und entfalten, was durch mich allein auf die Welt kommen kann. Spiritualität meint: vertrauen darauf, dass da, wo ich selber nicht mehr weiterkomme, nicht alles zu Ende ist. Im Gegenteil!

Inputs

Selbstverwirklichung und Spiritualität lassen sich einüben. Folgende Inputs zeigen ihre Wirkung, wenn du dich einlässt und neugierig darauf bist, welche Erfahrungen du machen wirst. Am besten beginnst du mit einer einzigen Sache.

Tagebuch schreiben

Von der holländischen Jüdin Etty Hillesum, die im 2. Weltkrieg in Amsterdam lebte und in Auschwitz ermordet wurde, sind Tagebücher erhalten. Darin gibt sie Einblick, wie sie innerlich reifte und wie sie Gott begegnete. Das Tagebuchschreiben wurde für sie ein wichtiges Werkzeug der Selbstverwirklichung. Die ersten Sätze der Tagebücher sprechen davon, wieviel Mut es braucht, wirklich und wesentlich zu beginnen.

Etty schreibt: «Also dann los! Dies ist ein peinlicher und kaum zu überwindender Augenblick für mich: mein gehemmtes Inneres auf einem unschuldigen Blatt linierten Papiers preiszugeben. Die Gedanken sind manchmal so klar und hell in meinem Kopf und meine Gefühle so tief, aber sie aufzuschreiben will mir noch nicht gelingen. Hauptsächlich liegt es, glaube ich, am Schamgefühl. Grosse Hemmungen, getraue mich nicht, die Gedanken preiszugeben, frei aus mir herausströmen zu lassen, und doch muss es sein, wenn ich auf die Dauer das Leben rechtschaffen und befriedigend zu Ende bringen will.»

Literatur: Etty Hillesum, das denkende Herz

10 Minuten beten

Teresa von Avila gehört zu jenen Gestalten der Kirchengeschichte, die als «Geistiges Weltkulturerbe» oder als «Ehre für das Menschengeschlecht» beschrieben werden. Sie lebte im 16. Jahrhundert in Spanien. Ihre Schriften zeigen, wie Selbsterkenntnis und Gotteserkenntnis ineinander gehen. Das eine ist nicht vom andern zu trennen. Sie ist überzeugt, dass es für den Weg der Selbstverwirklichung jeden Tag eine kleine Zeit des inneren Betens braucht:

«Denn meiner Meinung nach ist inneres Beten nichts anderes als Verweilen bei einem Freund (Jesus oder Gott), mit dem wir oft allein zusammenkommen, einfach um bei ihm zu sein, weil wir sicher wissen, dass er uns liebt.»

Inneres Beten meint die bewusste Hinwendung zum Geheimnis von. Eine stille, liebevolle Hinwendung zu einem Du, das grösser ist als wir. Dieser Gott war für Teresa konkret geworden in Jesus. Sie spricht mit diesem Freund innerlich wie mit einer Freundin oder einem Freund: vertrauensvoll und aufrichtig.

Hier findest du einen Podcast mit 30 Übungseinheiten zum inneren Beten.

Literatur: Mariano Delgado, Das zarte Pfeifen des Hirten

Bibel lesen

Madeleine Delbrêl, eine Französin (1904 bis 1964) aus Paris, hatte zwar einen katholischen Hintergrund, wurde aber als Jugendliche zu einer überzeugten Atheistin. Mit 20 Jahren stürzte sie in eine grosse Krise. Sie wurde krank. Danach entschied sie sich, auf den Rat von Teresa von Avila zu hören. Sie begann zu beten. Dabei machte sie eine unglaubliche Erfahrung. Sie sagt gegen Ende ihres Lebens: «Ich war und ich bin von Gott überwältigt.»

Sie rät auf dem Weg der Selbstverwirklichung zu beten wie Teresa von Avila und Bibel zu lesen. Sie ermutigt mit folgenden Sätzen:
«Das Evangelium (= die Bibel) verlangt, um sein Geheimnis preiszugeben, weder Ausschmückung noch Bildung noch eine Technik. Es braucht nur eine Seele, die anbetend niedergesunken ist…»

«Das Geheimnis des Evangeliums ist kein Geheimnis, das der Neugier zugänglich ist oder das einer intellektuellen Einweihung bedarf; das Geheimnis des Evangeliums ist in seinem tiefsten Wesen eine Mitteilung von Leben.»

«Das Licht des Evangeliums ist keine Erleuchtung, die uns äusserlich bleibt, sondern ein Feuer, das in uns eindringen möchte, um unser Inneres den Flammen anheim zu geben und umzuschaffen.»
«Wer ein einziges Wort des Herrn in sich einlässt und ihm erlaubt, sich in seinem Leben auszuwirken, weiss mehr vom Evangelium als einer, dessen ganze Anstrengung sich in abstrakter Betrachtung oder historischem Forschen erschöpft.»

Eine Anleitung mit der Bibel zu beten gibt es unter: de.sacredspace.ie.

Literatur: Madeleine Delbrêl, Gott einen Ort sichern

Sehnsucht benennen

Nelly Sachs, eine jüdische deutsch-schwedische Schriftstellerin, schreibt auch in der Zeit des 2. Weltkriegs. In einem Gedicht sagt sie: «Alles beginnt mit der Sehnsucht». Sie schreibt nicht, dass vielleicht alles mit Sehnsucht beginnt oder dass es für einige Auserwählte so sei. Sie schreibt ganz allgemein gültig: Unsere Selbstverwirklichung beginnt damit, dass wir Zugang zur Sehnsucht bekommen. 

 

Ignatius von Loyola, der Gründer des Jesuitenordens, hat im 16. Jahrhundert die geistlichen Übungen geschrieben. Geistliche Übungen sind christliche Meditationen. In diesen Übungen nimmt das Erspüren und das Benennen der Sehnsucht einen wichtigen Platz ein. Jedes Mal, wenn wir zu beten beginnen, sollen wir überlegen, wie die ganz persönliche Sehnsucht heisst. Ignatius rät, diese Sehnsucht vor Gott auszusprechen. Es macht Sinn, die Sehnsucht weit zu fassen (zum Beispiel: ich wünsche mir, dass mein Leben sinnvoll ist für andere; ich wünsche mir Beziehung; ich wünsche mir in der Liebe zu wachsen…).

 

Geistliche Übungen heissen auch Exerzitien (exerzitien.ch). Wer Exerzitien macht, wird auf der Suche der Selbstverwirklichung und der Spiritualität unterstützt.

Sich anvertrauen

Etty Hillesum hatte neben Freundinnen einen vertrauten Gesprächspartner auf ihrem Weg der Selbstverwirklichung. Mit dem Psychiater Julius Spier sprach sie über ihre psychischen Probleme und bald auch über ihre spirituellen Erfahrungen. Sie begann, im Neuen Testament der Bibel zu lesen, weil Spier ihr dazu geraten hatte.

Teresa von Avila war Ordensfrau. Sie war Zeit ihres Lebens von Priestern begleitet, denen sie sich in der Beichte und im gegenseitigen Austausch anvertraute. Madeleine Delbrêl lebte zusammen mit immer mehr Gefährtinnen ein Leben nach dem Evangelium. Sie führte im kommunistischen Stadtteil von Paris ein offenes Haus. Sie lernte die Bewegung der Pfadfinderinnen kennen und war mit vielen Priestern in Kontakt. Sie schrieb viele Briefe.

Selbstverwirklichung lebt daraus, sich anderen zu öffnen, sich zu zeigen und anzuvertrauen. Sie entwickelt sich, wenn für die eigenen Erfahrungen Sprache gesucht und mit anderen geteilt wird. Für manche beginnt es mit dem Tagebuchschreiben, mit einer Therapie oder einem Kurs. Eine weitere Möglichkeit ist Geistliche Begleitung (geistliche-begleitung.ch). Geistliche Begleitung ist ein Vieraugengespräch auf dem Hintergrund des christlichen Glaubens.

Gottes Spuren im Alltag finden

Madeleine Delbrêl hat es vorgelebt, dass es möglich ist, in einem prall gefüllten weltlichen Leben gottverbunden zu bleiben. Sie sagt, dass man dazu das Beten für sich neu erfinden oder entdecken muss. Es wird kaum möglich sein, täglich längere Zeiten zu reservieren, aber sie sagt, dass es Zeitstaub oder Zeitteilchen gibt. Kleine Momente, Augenblicke des Wartens zum Beispiel. Sie sagt es so: In das beschäftigtste, umhergeworfenste Leben dringen, wie feiner Staub, leere Zeitteilchen ein. Diese soll man verwerten und in diesen Augenblicken eine Tiefenbohrung nach innen zu Gott hin machen.

Sieht gibt für den Alltag auch folgenden Ratschlag:

 

Geht in euren Tag hinaus ohne vorgefasste Ideen,
ohne Erwartung von Müdigkeit,
ohne Plan von Gott, ohne Bescheidwissen über ihn,
ohne Enthusiasmus,
ohne Bibliothek –
geht so auf die Begegnung mit ihm zu.
Brecht auf ohne Landkarte –
und wisst, dass Gott unterwegs zu finden ist,
und nicht erst am Ziel.
Versucht nicht, ihn nach Originalrezepten zu finden,
sondern lasst euch von ihm finden
in der Armut eines banalen Lebens



Gott einen Ort sichern, S. 37

In einigen Pfarreien werden Exerzitien im Alltag angeboten. Diese Übungen helfen, Gottes Spuren im eigenen Alltag aufzuspüren und zu erkennen.

Tagesrückblick

Eine Form des Gebets kennen wir auch durch Ignatius von Loyola. Er sagt, dass es das wichtigste Gebet sei: am Abend auf den Tag zurückschauen zusammen mit Gott an der Hand.

Über die Seele Bescheid wissen

Hildegard Aepli hat am 28. Februar 2021 in der Kathedrale St.Gallen einen Impuls gehalten zum Thema: Wie ich mir die Seele vorstelle.

Hier findest du das Handout dazu.